Entdecke mit uns die unendlichen Weiten von Star Trek...

StartNews & StoriesFocus & BackgroundTemporal Cold War Reloaded? - "Star Trek: Strange New Worlds" im Kontext...

Temporal Cold War Reloaded? – “Star Trek: Strange New Worlds” im Kontext des Trek-Kanons

In “Morgen und morgen und morgen” muss La’an Noonien-Singh einen folgenschweren Eingriff in den Verlauf der Zeitlinie korrigieren. Die Episode könnte ein Indiz dafür sein, dass “Strange New Worlds” den ‘Temporalen Kalten Krieg’ aus “Enterprise” neu aufrollt. Etwas überholt ist jedoch das Geschichtsbild, das dieser Erzählung zugrunde liegt. Eine Analyse. SPOILER-Alarm!

Zeitagenten im 21. Jahrhundert

Das 21. Jahrhundert stellt in der Chronologie von “Star Tek” die wohl größte Zäsur in der Menschheitsgeschichte dar. Das erste Viertel dieses Jahrhunderts war geprägt von zahlreichen regionalen Konflikten, die – zumindest in der ursprünglichen Zeitlinie – auch das Resultat der ‘Eugenischen Kriege’ in den 1990er-Jahren waren (TOS 1×22 “Der schlafende Tiger” / “Space Seed”). Zwischen 2026 und 2053 tobte schließlich der verheerendste militärische Konflikt in der Geschichte der Erde, der zirka 3 Milliarden Menschen das Leben kostete.

Die Eskalationsspirale des 21. Jahrhunderts nahm indes nur langsam Fahrt auf. In den frühen 2020er-Jahren entstand in den USA eine neue Massenarbeitslosigkeit, ähnlich der ‘Great Depression’ im frühen 20. Jahrhundert. Zivile Unruhen gab es aber auch in Europa, allen voran in Frankreich. Scheinbar stand auch die Europäische Union zu dieser Zeit kurz vor ihrem Zerfall (DS9 3×11/12 “Gefangen in der Vergangenheit, Teil 1 & 2” / “Past Tense, Part 1 & 2”).

Die in SNW 1×01 “Strange New Worlds” / “Fremde neue Welten” eingeführte Erzählung vom ‘Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg’ zeichnet derweil einen noch düsteren Verlauf dieses Jahrzehnts. Zudem erwähnt Captain Pike in dieser Episode die ‘Eugenischen Kriege’, die er mitursächlich für den Ausbruch des ‘Dritten Weltkrieges’ nennt.

Es verwundert also nicht, dass sich im frühen 21. Jahrhundert gleich mehrere Zeitagenten auf der Erde tummeln. Diese gehören unterschiedlichen Fraktionen an, die im Rahmen temporaler Konflikte um die Kontrolle über den Verlauf der Geschichte ringen. Neben dem aus dem Toronto des Jahres 2022 stammenden Zeitagenten, der La’an beauftragt, agitiert dort auch die Romulanerin Sera (SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen” / “Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow”). Ihr Ziel ist es, den Verlauf der Prime-Zeitlinie so zu verändern, dass die Föderation 2161 erst gar nicht entsteht und das Romulanische Sternenimperium dadurch die Vorherrschaft in der Region des Alpha- und Beta-Quadranten einnehmen kann.  

Zur gleichen Zeit kämpft Talinn – ebenfalls eine Romulanerin – in Los Angeles als Wächterin für den Erhalt der Prime-Zeitlinie. Ihre Aufgabe besteht darin, Renée Picard zu beschützen, damit diese zwei Jahre später im Jahr 2024 ihre wichtige Europa-Mission durchführen kann (PIC 2×05 “Flieg mich zum Mond” / “Fly Me to the Moon”).

Wenige Monate später landen die aus dem Jahr 2371 stammenden Sternenflotten-Offiziere Commander Benjamin Sisko und Dr. Julian Bashir in San Francisco, wo sie unbeabsichtigt die Prime-Zeitlinie verändern, sodass es knapp eineinhalb Jahrhunderte später nicht zur Gründung der Föderation kommen wird. Allerdings gelingt es ihnen, die von ihnen herbeigeführten Veränderungen zu kompensieren, sodass die ursprüngliche Zeitlinie wiederhergestellt werden kann (DS9 3×11/12 “Gefangen in der Vergangenheit”).

Alle diese Begebenheiten verdeutlichen: Das frühe 21. Jahrhundert ist ein primäres Ziel in einem ‘Kampf um die Geschichte’.

Der ‘Temporale Kalte Krieg’

In den ersten drei Staffeln von “Star Trek: Enterprise” spielte der sogenannte ‘Temporale Kalte Krieg‘ eine tragende Rolle. Dunkle und helle Mächte aus der Zukunft kämpften an verschiedenen Zeit-Fronten, u.a. in der Mitte des 22. Jahrhunderts, um die temporale Vorherrschaft. Neben den Hauptakteuren des Konflikts, darunter die Föderation, die Sphärenbauer und die Na’kuhl, waren auch zahlreiche Proxy-Mächte wissentlich oder unwissentlich an diesem Zeitkrieg beteiligt. Von besonderer Bedeutung war jedoch der Auftraggeber der Suliban-Cabal, der sogenannte Future Guy. Dieser konnte selbst keine Zeitreisen unternehmen, sondern nur mit seinen temporalen Handlangern kommunizieren. Die Identität von Future Guy wurde nie abschließend geklärt.

Die Hochphase dieses temporalen Konflikts kann wahrscheinlich auf die Zeit zwischen dem 29. (VOY 5×24 “Zeitschiff Reletivity” / “Relativity”) und dem 31. Jahrhundert (ENT 1×11 “Kalter Krieg” / “Cold Front”) datiert werden, wenngleich es auch schon Zeitagenten aus dem 27. Jahrhundert gab, wie etwa die Vorgonen (TNG 3×19 “Picard macht Urlaub” / “Captain’s Holiday”). In der Auftakt-Doppelfolge der vierten Staffel von “Enterprise” gelang es Archer und dem Zeitagenten Daniels, den Temporalen Kalten Krieg zu beenden beziehungsweise dessen Entstehung gänzlich zu verhindern (ENT 4×02 “Sturmfront, Teil 2” / “Storm Front, Part 2”). Ein typisches “Star Trek”-Zeitparadoxon eben. Im 32. Jahrhundert sind Zeitreisen derweil verboten, wie wir in “Discovery” erfahren haben.

Retcon mit Bezug zu “Enterprise”?

Nach 13 Episoden “Strange New Worlds” spricht einiges dafür, dass die Serie auf eben jene in “Voyager” und “Enterprise” erzählten temporalen Konflikte Bezug nehmen könnte. Und diese dazu nutzt, um Ungereimtheiten im Kanon zu korrigieren beziehungsweise diesen einem Update zu unterziehen. Die Produzenten haben so etwas in dieser Richtung bereits vor dem Staffelstart angekündigt und kürzlich abermals bekräftigt. Dazu Showrunner Akiva Goldsman:

“Wenn es um den Kanon geht, spielen wir ein wenig mit ihm.”

SNW-Showrunner Akiva Goldsman im Interview mit “Den of Geek

“Dies [die Datierung der ‘Eugenischen Kriege’, Anm. d. R.] ist eine Korrektur. Denn sonst ist es albern, oder Star Trek hört auf, in unserem Universum zu sein. […] Übrigens ist das in Staffel 1 passiert, also ist das kein Staffel 2 -Problem. Es ist ein Pilotfilm-Problem. Wir wollen, dass Star Trek eine aufstrebende Zukunft ist. Wir wollen in der Lage sein, uns in die Föderation als Sternenflotte zu träumen. Ich denke, das ist zum Teil der Spaß daran. Und um Star Trek in unserer Zeitlinie zu halten, schieben wir die Termine immer weiter nach vorne. An einem bestimmten Punkt werden wir dazu nicht mehr in der Lage sein. Aber wenn man anfängt zu sagen, dass die Eugenischen Kriege in den 90er Jahren stattfanden, ist man in Bezug auf die reale Welt ziemlich am Arsch.“

SNW-Showrunner Akiva Goldsman bei “TrekMovie”

Aber auch einige konkrete inhaltliche Aspekte sprechen dafür, dass “Strange New Worlds” im Kontext eines um Nuancen veränderten Kanons erzählt wird. Und sich folglich hinsichtlich kleinerer oder größerer historischer Details von der Originalserie und den Serien der “The Next Generation”-Ära unterscheiden wird. Das wohl schlagkräftigste Argument für diese These ist eine Aussage von Sera in der jüngsten SNW-Episode:

“Aber so viele Menschen haben versucht, diese Ereignisse zu beeinflussen, zu verzögern oder aufzuhalten. Ich meine, ganze temporale Kriege wurden ihretwegen geführt. Und es wirkt fast so, als würde die Zeit selbst sich da einmischen und immer wieder für irgendwelche neue Ereignisse sorgen. Weil nämlich das alles hier schon 1992 stattfinden sollte, und ich hier gefangen bin und seit 30 Jahren an ihn rankommen will.

Die romulanische Zeitagentin Sera in SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen”

Auch die von 600 Millionen (“Star Trek: Der erste Kontakt”) auf 3 Milliarden hoch korrigierte Gesamtopferzahl des ‘Dritten Weltkrieges’ ist ein weiteres Indiz für diese These.

Des Weiteren hat das Eingreifen von Picard und Co. in der zweiten Staffel von “Picard” erst dazu geführt, dass Adam Soong sich dem “Projekt Khan” zuwendet (PIC 2×10 “Abschied” / “Farewell”).

Überdies steht die Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts in SNW auch im Widerspruch zur DS9-Episode “Gefangen in der Vergangenheit”, in welcher Sisko behauptet, die ‘Bell-Unruhen’ hätten zu einer deutlichen Verbesserung der sozialen Situation in den USA geführt. Stattdessen hat SNW das Narrativ vom ‘Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg’ eingeführt, der so ziemlich alles ist, nur keine Verbesserung der innenpolitischen Lage in den USA. Gleichwohl muss man an dieser Stelle feststellen, dass Siskos Behauptung schon immer im Widerspruch zur Chronologie des ‘Dritten Weltkrieges’ stand. Die von ihm angesprochene Verbesserung dürfte daher maximal zwei Jahre Bestand gehabt haben.

Der Geschichtsverlauf und dessen Variablen

Hier manifestiert sich sogleich ein Kritikpunkt bezüglich des in “Star Trek” vertretenen Geschichtsbildes. Denn so ziemlich alle Iterationen des Franchise suggerieren, dass einzelne Individuen beziehungsweise deren Schicksale den Verlauf der Geschichte determinieren. Und dies vollzieht sich fast immer vor dem Kontext der Entstehungsgeschichte der Föderation. Das Schicksal von Person X führt durch Ereignis Y (unweigerlich) dazu, dass die Föderation (nicht) gegründet wird. Und mit dieser steht und fällt sogleich die uns bekannte Zukunftsutopie.

Ich möchte diese Beobachtung anhand einiger ausgewählter Beispiele belegen:

Edith Keeler (1930er)

Die amerikanische Sozialarbeiterin und überzeugte Pazifistin Edith Keeler stirbt 1930 als junge Frau bei einem Verkehrsunfall in New York City, USA.

Die Zeitlinien-Disruption: Durch eine ungewollte Zeitreise landet der aus dem 23. Jh. stammende Dr. McCoy einige Tage vor diesem Ereignis auf der Erde, wo er durch sein Eingreifen Keelers frühen Tod verhindert. Die Folge: Sie wird daraufhin zur Anführerin einer großen US-amerikanischen Friedensbewegung. Im Jahr 1936 trifft sie Präsident Franklin D. Roosevelt und beeindruckt diesen sehr. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts wächst die Pazifismus-Bewegung unter Keelers Führung derart an, dass sich die USA deutlich später für einen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg entscheiden. Dies hat zur Folge, dass Nazideutschland den Wettlauf um die Atombombe für sich entscheidet und der Faschismus schlussendlich als Sieger aus dem Krieg hervorgeht. Der Verlauf der Geschichte wurde derart verändert, dass in weiterer Folge die Föderation niemals entsteht. Auslöser und Resultat liegen hier mehr als zwei Jahrhunderte auseinander (1941/2161).

Gabriel Bell (2020er)

Gabriel Bell ist im Jahr 2024 ein Bewohner der ‘Schutzzone A’ in San Francisco. Nur Bells mutigem Eingreifen ist es zu verdanken, dass die während eines Aufstandes genommenen Geiseln, alles Angestellte der Behörden, am Ende überleben. Er bezahlt diesen Einsatz mit seinem Leben. Der Aufstand in ‘Schutzzone A’ geht unter der Bezeichnung ‘Bell -Unruhen’ in die Geschichte ein.

Die Zeitlinien-Disruption: Als Bell aufgrund eines ungewollten temporalen Eingriffs von Commander Sisko und Dr. Bashir bereits vier Tage früher den Tod findet, wird eine temporale Kettenreaktion in Gang gesetzt, die in langfristiger Konsequenz das Entstehen der Föderation verhindert.

Renée Picard (2020er)

Renée Picard ist im Jahr 2024 Astronautin im Rahmen der ‘Europa-Mission’, welche die Monde des Jupiters erforscht. Renée Picard entdeckt auf dem Mond Io einen Mikroorganismus, den sie mit zur Erde bringt. Auf dessen Grundlage entwickelt die Menschheit ein biotechnisches Verfahren, mit dem man die Auswirkungen des Klimawandels eindämmen kann.

Die Zeitlinien-Disruption: Dem skrupellosen Wissenschaftler Adam Soong gelingt es, Renée Picard vor dem Start der Mission zu töten oder zumindest deren Teilnahme zu verhindern. Infolgedessen findet die Menschheit keine adäquate Lösung für die Probleme des Klimawandels. Stattdessen steigt Adam Soong dank seiner Firma ‘Soong Dynamics’ zum ‘Retter der Menschheit’ auf. Er wird ferner zum Begründer der autoritären und xenophoben ‘Konföderation der Erde’. Auch in diesem Fall kommt es nicht zur Gründung der ‘Vereinigten Föderation der Planeten’.

Khan Noonien-Singh (1990er/2020er)

Der genetisch verbesserte Mensch (Augment) Khan Noonien-Singh ist das Produkt einer neuen eugenischen Bewegung, die sich im späten 20. und/oder frühen 21. Jahrhundert herausbildet. Ab einem gewissen Zeitpunkt erringen er und andere Augments die Herrschaft in 40 Ländern der Welt, von Asien bis in den Mittleren Osten. Für mehrere Jahre (1992-1996 oder später?) herrschen die Augments als Tyrannen, wobei sich Khan als der schlimmste unter ihnen entpuppt. Angestachelt von ihrem Narzissmus führen sie Krieg gegen ihre eigenen Bevölkerungen sowie gegen andere Staaten. Dieser Konflikt geht als die ‘Eugenischen Kriege’ in die Geschichte ein und mündet in weiterer Konsequenz in einem ‘Dritten Weltkrieg’. Als den Augments eine Niederlage droht, fliehen sie mit der S.S. Botany Bay von der Erde.

Die Zeitlinien-Disruption: Als es der romulanischen Zeitagentin Sera im Jahr 2022 gelingt, den heranwachsenden Khan zu töten, entsteht eine neue Zeitlinie ohne die ‘Eugenischen Kriege’, sodass die Gründung der Föderation im Jahr 2161 ausbleibt.  

Zefram Cochrane (2060er)

Dr. Zefram Cochrane gilt auf der Erde als der Erfinder des Warp-Antriebs. Er entwickelt diesen in Montana (USA) in einem Raketensilo, einem Überbleibsel des vor zehn Jahre zu Ende gegangenen ‘Dritten Weltkrieges’. Im April 2063 führt er seinen Erstflug durch, was den Erstkontakt zwischen der Menschheit und den Vulkaniern nach sich zieht. Im folgenden Jahrhundert legt die Menschheit alle ihre internen Konflikte bei und vereinigt sich auf der politischen Ebene.

Die Zeit-Disruption: Im Jahr 2373 reisen die Borg zurück ins Jahr 2063 und töten Cochrane. Dies hat zur Folge, dass rund 100 Jahre später die Föderation nicht entsteht und die Menschheit im 24. Jahrhundert vollständig assimiliert ist.

Analyse

Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Die Gründung der Föderation wird von Einzelpersonen und Einzelereignissen abhängig gemacht, die teilweise bis zu 200 Jahre zurückliegen. Diesem Geschichtsverständnis liegt die Annahme zugrunde, dass der Verlauf der Geschichte Wegmarken hat, die derart entscheidend sind, dass kein anderes Ereignis oder keine andere Person andernorts oder zu einem anderen Zeitpunkt einen ähnlichen Einfluss auf diesen Verlauf der Geschichte nehmen kann.

Diese Vorstellung von Geschichte ist durchaus verbreitet, aber eben auch kritikwürdig. Selbstverständlich prägen Einzelpersonen und Einzelereignisse den Verlauf der Geschichte. Nichtsdestotrotz müssen auch komplexe Kontexte beziehungsweise Makrophänomene in die Betrachtung mit einfließen. Diesen Sachverhalt möchte ich an einigen der oben genannten Beispiele verdeutlichen:

Die Geschichte um Edith Keeler ist unterkomplex, weil der Kriegseintritt der USA vor allem auch die schnelle Antwort auf ein nationales Trauma, den japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941, gewesen ist. Es ist aus meiner Sicht nicht wirklich schlüssig, dass der Einfluss einer pazifistischen Bewegung auf Politik und Gesamtgesellschaft derart groß hätte sein können, dass die USA diesen (ohne vorherige Kriegserklärung) erfolgten Überraschungsangriff einfach stillschweigend hingenommen hätten. Man bedenke an dieser Stelle: Pazifistische Bewegungen konnten weder den Vietnamkrieg (60er) verhindern noch die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses (80er). Und auch gegenwärtig sehen sich Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine, die ihre Kritik mit einer pazifistischen Grundeinstellung begründen, eher dem Vorwurf des “Lumpen-Pazifismus” ausgesetzt, als dass sie eine Breitenwirkung erzielen könnten. Daraus folgt: “Star Trek” hat hier sowohl die Bedeutung einer Einzelperson als auch die einer pazifistischen Bewegung massiv überschätzt.

Noch unschlüssiger ist indes die in “Deep Space Nine” behauptete Kontinuitätslinie zwischen den ‘Bell-Unruhen’ (2024) und der Gründung der Föderation (2161). Hier liegen immer noch stolze 137 Jahre Menschheitsgeschichte zwischen beiden Ereignissen, darunter auch die Zeit des ‘Dritten Weltkrieges’ (2026-2053) und die daran anschließende Epoche der sog. ‘Postatomaren Schreckenszeit’. Angesichts von mindestens 40 Jahren globaler Zerstörung und Genozid ist es kaum nachvollziehbar, warum eine bessere soziale Situation in den USA vor Kriegsausbruch (2024-2026) das Entstehen der Föderation so maßgeblich beeinflusst haben könnte.

Ergo: Bells Tod war vielleicht nicht gänzlich irrelevant für den weiteren Verlauf der amerikanischen Geschichte. Aber nüchtern betrachtet waren die ‘Bell-Unruhen’ eher nicht von globaler Bedeutung. Und auch ganz sicher keine zwingende Vorbedingung für das Entstehen der interstellaren Föderation.

Den Fall Khan habe ich bereits in meiner jüngsten Rezension ausführlich analysiert, daher möchte ich an dieser Stelle auch nur kurz darauf eingehen. Wäre Khan als Kind gestorben, hätte es die ‘Eugenischen Kriege’ sehr wahrscheinlich trotzdem gegeben. Womöglich wären sie weniger verheerend ausgefallen, mehr aber auch nicht. Zudem hat SNW selbst bestätigt, dass der Ausbruch des ‘Dritten Weltkrieges’ multikausal gewesen ist, u.a. wird hier der ‘Zweite Amerikanische Bürgerkrieg’ als einer der Katalysatoren identifiziert. Daraus folgt: Seras Computer hat etliche Variablen in seinen temporalen Berechnungen unberücksichtigt gelassen. Und SNW ignoriert Aussagen, welche die Serie an anderer Stelle selbst getätigt hat.

“Zeit ist wie eine Black Box. Sie ist viel zu kompliziert, um sie der Intuition zu überlassen. Also haben wir Computer konstruiert, die uns […] gewisse Veränderungen zeigen. […] Khan wird ein brutaler Despot, doch vielleicht braucht ja die Menschheit das dunkle Zeitalter, in das er sie stürzt, um mit der Zeit der Aufklärung anzufangen. Oder…es passiert einfach aus Versehen. Das spielt auch keine Rolle, weil es, wenn ich ihn töte, die Föderation niemals geben wird.“

Die romulanische Zeitagentin Sera in SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen”

Die Geschichte um Dr. Zefram Cochrane und den Warp-Antrieb habe ich indes schon als Teenager für völlig unglaubwürdig gehalten. Cochrane baut sein Warpschiff scheinbar auf einer ehemaligen Atomraketenanlage der US Armed Forces im Rahmen eines weitestgehend privaten Projekts. Man fragt sich, wie Cochrane – offenkundig ein eher mitteloser Mann – so etwas ohne staatliche Unterstützung – personelle, finanzielle und logistische – überhaupt auf die Reihe bekommen hat. Okay, der Staat USA scheint im Jahr 2063 in Teilen nicht mehr existent oder zumindest dysfunktional zu sein. Aber dennoch müsste Cochrane dann – so wie beispielsweise Elon Musk (SpaceX) – Multimilliardär oder wenigstens Multimillionär sein, um solch ein ambitioniertes Projekt auf nichtstaatlicher Ebene aufziehen zu können. Noch dazu in einer Epoche, die von Ressourcenknappheit geprägt ist. Cochrane sagt aber explizit, dass er das Projekt gestartet hat, um ordentlich abzukassieren und sich mit dem verdienten Geld auf einer tropischen Insel niederlassen zu können. Hier passt also wenig zusammen.

Man hätte Cochrane damals besser als renommierten Forscher darstellen sollen, der für einen globalen Großkonzern oder einen Staat arbeitet. Das wäre realistischer gewesen. Dies hätte dann aber zugleich bedeutet, dass sein vorzeitiger Tod das Projekt nicht notwendigerweise zum Erliegen gebracht hätte, weil an solchen Projekten immer zahlreiche Ingenieure beteiligt sind, die einen ähnlichen Wissensstand besitzen und ihre Forschung zumeist auch für die Nachwelt dokumentieren.

Unterkomplexes Geschichtsverständnis

Das in “Star Trek” vertretene Geschichtsbild ist folglich unterkomplex. Es fokussiert fast ausschließlich auf die Bedeutung singulärer historischer Personen oder Ereignisse, die sodann in einer deterministischen Kausalkette teilweise über Jahrhunderte hinweg weitergedacht werden. Historische Personen werden hierbei nicht selten als ‘unersetzbar’ beschrieben.

Zugleich bleiben Ideen, Strukturen und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Bewegungen weitestgehend unberücksichtigt. Oder deren Bedeutung tritt hinter Einzelpersonen zurück (z.B. Eugenische Bewegung vs. Khan Noonien-Singh).

Zeitagenten, die den Verlauf der Geschichte tatsächlich maßgeblich verändern wollen, müssten daher eine deutlich umfassendere Agitation betreiben, anstatt nur Einzelpersonen aus der Geschichte zu tilgen.    

Fazit

Es spricht vieles dafür, dass “Strange New Worlds” den etablierten Kanon im weiteren Serienverlauf in Nuancen umschreiben wird. An der ein oder anderen Stelle hat die Serie dies bereits getan. Ein umfassender Retcon, so wie in der Reboot-Kinofilmreihe, ist indes nicht zu erwarten. Man möchte sich einerseits weiterhin im Prime-Universum bewegen, andererseits aber auch genug Freiraum für die eigenen Geschichten haben, um der berühmtberüchtigten ‘Prequel-Falle’ ein Schnippchen schlagen zu können.

Diese kleineren Kanon-Veränderungen, darunter beispielsweise die Umdatierung von einschneidenden historischen Ereignissen wie den ‘Eugenischen Kriegen’, können mit Eingriffen durch Zeitagenten im Rahmen temporaler Konflikte, wie dem in “Enterprise” erzählten ‘Temporalen Kalten Krieg’, erklärt werden. Auch Kanon-Puristen werden sich damit arrangieren müssen, wenn sie der Serie eine echte Chance geben wollen.

Die bisher ausgestrahlten dreizehn Episoden der Serie verfestigen derweil den Eindruck, dass sich auch “Strange New Worlds” einem eher mikrokosmischen Geschichtsbild verschrieben hat. Der Fokus dieser Geschichtsvorstellung liegt primär auf Personen und Einzelschicksalen, während man an Makrophänomenen – wie Strukturen, Denkweisen und daraus resultierenden sozialen Bewegungen – eher wenig Interesse zeigt.

Hinzu kommt ein Hang zu einer Art historischem Determinismus, der eine Unersetzbarkeit von Individuen unterstellt.

Aber letztendlich ist es ohnehin nur Science-Fiction…

Diskutiert mit!

Was glaubt ihr, wie stark wird “Strange New Worlds” den Kanon umschreiben?

Und werden wir endlich erfahren, wer hinter dem ‘Future Guy’ aus “Enterprise” steckt?

Lasst uns einen Kommentar dar, gerne auch eure Meinung zum in “Star Trek” vertretenen Geschichtsbild: realistisch oder unrealistisch?

Mehr zum Thema

Matthias Suzan
Matthias Suzan
Matthias' Leidenschaft für "Star Trek" wurde 1994 mit knapp zehn Jahren durch "The Next Generation" geweckt. TNG und DS9 sind bis heute seine Lieblingsserien. Es sind vor allem die politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Themen des Trek-Universums, die ihn faszinieren. Aber auch die vielen, tollen Raumschiffe haben es dem passionierten Modellbauer angetan. Matthias ist seit 2017 Teil der TZN-Redaktion.

Kommentare

Erstelle jetzt dein eigenes Benutzerkonto! Damit kannst du deine Kommentare länger bearbeiten und in deinem Profil übersichtlich anzeigen lassen.


Wir behalten uns vor, Kommentare gekürzt oder nicht zu veröffentlichen, sollten sie zu der Diskussion thematisch nicht konstruktiv beitragen.

3 Kommentare

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

3 Kommentare
Neueste
Älteste Bestbewertet
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Ich finde es klasse das über den “Trick” Temporaler Kalter Krieg, Trek-Canon-Probleme umschifft werden können.. Man ist sich ja über 1992 TOS Euginsichen Konflikte bewusst, aber durch dass eingreifen Zahlreicher Zeitagenten und Feinde eben dieser, kommt halt immer wieder mal was durcheinander…

Bei Cochrane ging es meines Wissens nicht um den Tod der Person, sondern um die Verhinderung des ersten Warp-Fluges. Die Vulkanier sind aufgrund des Warp auf die Erde aufmerksam geworden, das Leben oder Sterben des Menschen Cochrane spielte da keine Rolle. Wäre Cochrane während oder nach dem Flug gestorben, wären die Vulkanier dennoch auf der Erde gelandet. So habe ich es jedenfalls verstanden. Ich habe die zweite Staffel SNW bisher noch nicht gesehen, aber wenn dort wirklich der temporale kalte Krieg fortgeführt wird, wäre es einerseits schön, da er in Enterprise ziemlich abrupt beendet wurde, andererseits könnte es ein ganz… Weiterlesen »

Kurz als Anmerkung: In den Büchern (ja wurde auch teilweise schon wieder geretconnt 😉 ) wird Cochrane von FLint dem Unsterblichen heimlich finanziert ;).

3
0
Was ist deine Meinung? Kommentiere!x