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Temporal Cold War Reloaded? – “Star Trek: Strange New Worlds” im Kontext des Trek-Kanons

In “Morgen und morgen und morgen” muss La’an Noonien-Singh (Christina Chong) einen folgenschweren Eingriff in den Verlauf der Zeitlinie korrigieren. Die Episode könnte ein Indiz dafür sein, dass “Strange New Worlds” den ‘Temporalen Kalten Krieg’ aus “Enterprise” neu aufrollt. Etwas überholt ist jedoch das Geschichtsbild, das dieser Erzählung zugrunde liegt. Eine Analyse.

Zeit-Agenten im 21. Jahrhundert

Das 21. Jahrhundert stellt in der fiktiven Chronologie von “Star Tek” die wohl größte Zäsur in der Menschheitsgeschichte dar. Das erste Viertel dieses Jahrhunderts ist geprägt von zahlreichen regionalen Konflikten, die – zumindest in der ursprünglichen Zeitlinie – auch das Resultat der ‘Eugenischen Kriege’ in den 1990er-Jahren sind (TOS 1×22 “Der schlafende Tiger” / “Space Seed”). Zwischen 2026 und 2053 tobt schließlich der verheerendste militärische Konflikt in der Geschichte der Erde, der zirka 3 Milliarden Menschen das Leben kostet.

Die Eskalationsspirale des 21. Jahrhunderts nimmt relativ langsam Fahrt auf. In den frühen 2020er-Jahren entsteht in den USA eine neue Massenarbeitslosigkeit, ähnlich der ‘Great Depression’ im frühen 20. Jahrhundert. Zivile Unruhen gibt es aber auch in Europa, allen voran in Frankreich. Scheinbar steht auch die Europäische Union zu dieser Zeit kurz vor ihrem Zerfall (DS9 3×11/12 “Gefangen in der Vergangenheit, Teil 1 & 2” / “Past Tense, Part 1 & 2”).

Die in SNW 1×01 “Strange New Worlds” / “Fremde neue Welten” eingeführte Erzählung vom ‘Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg’ zeichnet derweil einen noch düsteren Verlauf dieses Jahrzehnts. Zudem erwähnt Captain Pike in dieser Episode die ‘Eugenischen Kriege’, die er als eine der Ursachen für den Ausbruch des ‘Dritten Weltkrieges’ bezeichnet.

Es verwundert also nicht, dass im frühen 21. Jahrhundert gleich mehrere Zeit-Agenten auf der Erde aktiv sind. Diese gehören unterschiedlichen Fraktionen an, die im Rahmen temporaler Konflikte um die Kontrolle über den Verlauf der Geschichte ringen. Neben dem aus dem Toronto des Jahres 2022 stammenden Zeit-Agenten, der La’an beauftragt, intrigiert dort auch die Romulanerin Sera (SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen” / “Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow”). Ihr Ziel ist es, den Verlauf der Prime-Zeitlinie so zu verändern, dass die Föderation 2161 gar nicht erst entsteht und das Romulanische Sternenimperium dadurch die Vorherrschaft in der Region des Alpha- und Beta-Quadranten erringen kann.  

Zur gleichen Zeit kämpft Talinn – ebenfalls eine Romulanerin – in Los Angeles als Wächterin für den Erhalt der Prime-Zeitlinie. Ihre Aufgabe besteht darin, Renée Picard zu beschützen, damit diese zwei Jahre später im Jahr 2024 ihre wichtige Europa-Mission durchführen kann (PIC 2×05 “Flieg mich zum Mond” / “Fly Me to the Moon”).

Wenige Monate später landen die aus dem Jahr 2371 stammenden Sternenflottenoffiziere Commander Benjamin Sisko und Dr. Julian Bashir in San Francisco, wo sie unbeabsichtigt die Prime-Zeitlinie verändern, sodass es knapp eineinhalb Jahrhunderte später nicht zur Gründung der Föderation kommen wird. Allerdings gelingt es ihnen, die von ihnen herbeigeführten Veränderungen zu kompensieren, sodass ihre Zeitlinie wiederhergestellt werden kann (DS9 3×11/12 “Gefangen in der Vergangenheit”).

Alle diese Begebenheiten verdeutlichen: Das frühe 21. Jahrhundert ist ein primäres Ziel in einem erbitterten ‘Kampf um die Geschichte’.

Der ‘Temporale Kalte Krieg’

In den ersten drei Staffeln von “Star Trek: Enterprise” (2001-2005) spielt der sogenannte ‘Temporale Kalte Krieg‘ eine tragende Rolle. Dunkle und helle Mächte aus der Zukunft kämpfen an verschiedenen Zeit-Fronten – vor allem in der Mitte des 22. Jahrhunderts – um die temporale Vorherrschaft. Neben den Hauptakteuren des Konflikts, darunter die Föderation, die Sphärenbauer und die Na’kuhl, sind auch zahlreiche andere, oftmals verdeckt agierende Mächte an diesem Zeit-Krieg beteiligt. Von besonderer Bedeutung ist der Auftraggeber der Suliban-Cabal, der sogenannte Future Guy. Dieser kann zwar selbst keine Zeitreisen unternehmen, er gibt jedoch Befehle an seine temporalen Handlanger, wie bspw. die erwähnten Suliban. Die Identität des Future Guy wurde bis heute nie aufgelöst.

Die Hochphase dieses temporalen Konflikts kann wahrscheinlich auf die Zeit zwischen dem 29. (VOY 5×24 “Zeitschiff Reletivity” / “Relativity”) und dem 31. Jahrhundert (ENT 1×11 “Kalter Krieg” / “Cold Front”) datiert werden, wenngleich es auch Zeit-Agenten aus dem 27. Jahrhundert gibt, wie bspw. die Vorgonen aus TNG 3×19 “Picard macht Urlaub” / “Captain’s Holiday”).

Im Auftaktzweiteiler der vierten Staffel von “Enterprise” gelingt es Archer und dem Zeit-Agenten Daniels, den ‘Temporalen Kalten Krieg’ zu beenden. Genauer gesagt, wird dessen Entstehung gänzlich verhindert (ENT 4×02 “Sturmfront, Teil 2” / “Storm Front, Part 2”), wenngleich Cleveland Booker im 31. Jahrhundert weiterhin über diesen Konflikt im Bilde zu sein scheint (vgl. DIS 3×01 “Ein Zeichen der Hoffnung” / “That Hope Is You”). Ein typisches “Star Trek”-Zeit-Paradoxon eben.

Die Folge des ‘Temporalen Kalten Krieges’: Im 32. Jahrhundert sind Zeitreisen gänzlich verboten.

Retcon mit Bezug zu “Enterprise”?

Nach 13 Episoden “Strange New Worlds” spricht einiges dafür, dass die Serie auf eben jene in “Voyager” und “Enterprise” erzählten temporalen Konflikte Bezug nehmen könnte; und diese dazu nutzt, um Ungereimtheiten im Kanon zu korrigieren beziehungsweise diesen einem Update zu unterziehen. Die Produzenten haben so etwas in dieser Richtung bereits vor dem Staffelstart angekündigt und kürzlich abermals bekräftigt. Dazu Showrunner Akiva Goldsman:

“Wenn es um den Kanon geht, spielen wir ein wenig mit ihm.”

SNW-Showrunner Akiva Goldsman im Interview mit “Den of Geek

“Dies [die Datierung der ‘Eugenischen Kriege’, Anm. d. R.] ist eine Korrektur. Denn sonst ist es albern, oder Star Trek hört auf, in unserem Universum zu sein. […] Übrigens ist das in Staffel 1 passiert, also ist das kein Staffel 2 -Problem. Es ist ein Pilotfilm-Problem. Wir wollen, dass Star Trek eine aufstrebende Zukunft ist. Wir wollen in der Lage sein, uns in die Föderation als Sternenflotte zu träumen. Ich denke, das ist zum Teil der Spaß daran. Und um Star Trek in unserer Zeitlinie zu halten, schieben wir die Termine immer weiter nach vorne. An einem bestimmten Punkt werden wir dazu nicht mehr in der Lage sein. Aber wenn man anfängt zu sagen, dass die Eugenischen Kriege in den 90er Jahren stattfanden, ist man in Bezug auf die reale Welt ziemlich am Arsch.“

SNW-Showrunner Akiva Goldsman bei TrekMovie

Aber auch einige konkrete inhaltliche Aspekte sprechen dafür, dass “Strange New Worlds” im Kontext eines um Nuancen veränderten Kanons erzählt wird. Und sich folglich hinsichtlich kleinerer oder größerer historischer Details von der Originalserie und den Serien der “The Next Generation”-Ära unterscheiden wird. Das wohl schlagkräftigste Argument für diese These ist eine Aussage von Sera in der jüngsten SNW-Episode:

“Aber so viele Menschen haben versucht, diese Ereignisse zu beeinflussen, zu verzögern oder aufzuhalten. Ich meine, ganze temporale Kriege wurden ihretwegen geführt. Und es wirkt fast so, als würde die Zeit selbst sich da einmischen und immer wieder für irgendwelche neue Ereignisse sorgen. Weil nämlich das alles hier schon 1992 stattfinden sollte, und ich hier gefangen bin und seit 30 Jahren an ihn rankommen will.

Die romulanische Zeitagentin Sera in SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen”

Auch die von 600 Millionen (“Star Trek: Der erste Kontakt”) auf 3 Milliarden hoch korrigierte Gesamtopferzahl des ‘Dritten Weltkriegs’ ist ein weiteres Indiz für diese These.

Des Weiteren führt erst das Eingreifen von Picard und Co. in der zweiten Staffel von “Star Trek: Picard” dazu, dass sich Adam Soong dem “Projekt Khan” zuwendet (PIC 2×10 “Abschied” / “Farewell”).

Überdies steht die Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts in SNW auch im Widerspruch zum DS9-Zweiteiler “Gefangen in der Vergangenheit”, in welchem Sisko behauptet, die ‘Bell-Unruhen’ (‘Bell Riots’) hätten zu einer deutlichen Verbesserung der sozialen Situation in den USA geführt. Stattdessen hat SNW die Erzählung vom ‘Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg’ eingeführt, der so ziemlich alles ist, nur keine Verbesserung der innenpolitischen Lage in den USA. Gleichwohl muss man an dieser Stelle feststellen, dass Siskos Behauptung schon immer im Widerspruch zur Narration des ‘Dritten Weltkriegs’ stand. Die von ihm angesprochene Verbesserung der sozialen Lage kann maximal zwei Jahre Bestand gehabt haben, da der Dritte Weltkrieg in “Star Trek” bereits 2026 ausbricht.

Der Geschichtsverlauf und dessen Variablen

An dieser Stelle manifestiert sich sogleich ein Kritikpunkt bezüglich des in “Star Trek” erkennbaren Geschichtsbildes. Denn so ziemlich alle Iterationen suggerieren, dass einzelne Individuen beziehungsweise deren Schicksale den Verlauf der Geschichte determinieren. Und dies vollzieht sich fast immer vor dem Kontext der Entstehungsgeschichte der Föderation. Das Schicksal von Person X führt durch Ereignis Y (unweigerlich) dazu, dass die Föderation (nicht) gegründet wird. Und mit dieser steht und fällt sogleich auch die erzählte Zukunftsutopie.

Ich möchte diese Beobachtung im Folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele belegen.

Edith Keeler (1930er-Jahre)

Die amerikanische Sozialarbeiterin und überzeugte Pazifistin Edith Keeler stirbt 1930 als junge Frau bei einem Verkehrsunfall in New York City, USA.

Die Zeitlinien-Disruption: Durch eine ungewollte Zeitreise landet der aus dem 23. Jahrhundert stammende Dr. Leonard McCoy einige Tage vor diesem Ereignis auf der Erde, wo er durch sein Eingreifen Keelers frühen Tod verhindert.

Die Folge: Keeler wird daraufhin zur Anführerin einer großen und einflussreichen US-amerikanischen Friedensbewegung. Im Jahr 1936 trifft sie Präsident Franklin D. Roosevelt und hinterlässt bei ihm einen bleibenden Eindruck. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts wächst die Pazifismus-Bewegung unter Keelers Führung derart an, dass sich die USA deutlich später für einen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg entscheiden. Dies hat wiederum zur Folge, dass Nazideutschland die erste Atombombe entwickelt. Die Alliierten verlieren deswegen den Krieg und der Faschismus gewinnt die Oberhand in der Welt.

Der Verlauf der Geschichte wurde aufgrund von Keelers Wirken (nach ihrem ausgebliebenen frühzeitigen Tod) derart verändert, dass in weiterer Folge die Föderation niemals entsteht. Auslöser und Resultat liegen hier mehr als zwei Jahrhunderte auseinander (1941/2161).

Gabriel Bell (2020er-Jahre)

Gabriel Bell ist im Jahr 2024 einer von rund 9.500 Bewohnern der ‘Schutzzone A’ in San Francisco. Nur Bells mutigem Eingreifen ist es zu verdanken, dass die während eines Aufstandes genommenen Geiseln – alles Angestellte der Behörden – am Ende überleben. Er bezahlt diesen Einsatz mit seinem Leben, als die Nationalgarde ein besetztes Gebäude stürmt. Der Aufstand in ‘Schutzzone A’ im September 2024 geht unter der Bezeichnung ‘Bell -Unruhen’ in die Geschichte ein.

Die Zeitlinien-Disruption: Als Bell aufgrund eines ungewollten temporalen Eingriffs von Commander Sisko und Dr. Bashir bereits vier Tage früher den Tod findet, wird eine temporale Kettenreaktion in Gang gesetzt, die in langfristiger Konsequenz das Entstehen der Föderation verhindert.

Die beiden Sternenflottenoffiziere können die kurzzeitig entstandene Zeitlinien-Disruption jedoch kompensieren, indem Commander Sisko in die Rolle von Bell schlüpft beziehungsweise dessen Identität annimmt. Die Zeitlinie wird zwar nicht gänzlich repariert, da Gabriel Bell nicht vor einem frühzeitigen Tod bewahrt wird. Allerdings bleibt die Disruption folgenlos, da Commander Sisko ebenfalls dafür sorgt, dass die Geiseln überleben.

Renée Picard (2020er-Jahre)

Renée Picard ist im Jahr 2024 Astronautin im Rahmen der ‘Europa-Mission’, welche die Jupitermonde erforscht. Renée Picard entdeckt auf dem Mond Io einen Mikroorganismus, den sie mit zur Erde bringt. Auf dessen Grundlage entwickelt die Menschheit ein biotechnisches Verfahren, mit dem man die Auswirkungen des Klimawandels eindämmen kann.

Die Zeitlinien-Disruption: Dem skrupellosen Wissenschaftler Adam Soong gelingt es, Renée Picard vor dem Start der Mission zu töten oder zumindest deren Teilnahme zu verhindern. Infolgedessen findet die Menschheit zunächst keine Lösung für die Folgen des Klimawandels. Stattdessen steigt Adam Soong in weiterer Folge dank seiner Firma ‘Soong Dynamics’ zum ‘Retter der Menschheit’ auf, indem er und nicht Renée Picard ein technisches Verfahren entwickelt, das die Menschheit vor negativen Einflüssen der Erdatmosphäre schützt. Später nutzt er seine gehobene soziale Stellung, um die autoritäre und xenophobe ‘Konföderation der Erde’ zu errichten.

Auch in diesem Fall kommt es nicht zur Gründung der ‘Vereinigten Föderation der Planeten’.

Khan Noonien-Singh (1990er/2020er-Jahre)

Der genetisch verbesserte Mensch (Augment) Khan Noonien-Singh ist das Produkt einer neuen eugenischen Bewegung, die sich im späten 20. und/oder frühen 21. Jahrhundert herausbildet. In dieser Epoche erringen er und andere Augments die Herrschaft in 40 Ländern der Welt, von Asien bis in den Mittleren Osten. Für mehrere Jahre (1992-1996 oder später?) herrschen die Augments als Tyrannen, wobei Khans Schreckensherrschaft alle übrigen Tyrannen in den Schatten stellt.

Die von den Augments regierten Länder führen mancherorts gegeneinander Krieg, vor allem aber terrorisieren sie ihre eigenen Bevölkerungen und attackieren andere Staaten. Dieser Konflikt geht als die ‘Eugenischen Kriege’ in die Geschichte ein und mündet in weiterer Konsequenz in einem ‘Dritten Weltkrieg’. Als den Augments eine Niederlage droht, fliehen einige von ihnen mit der S.S. Botany Bay von der Erde.

Die Zeitlinien-Disruption: Als es der romulanischen Zeit-Agentin Sera im Jahr 2022 gelingt, den heranwachsenden Khan Noonien-Singh zu töten, entsteht eine neue Zeitlinie ohne die ‘Eugenischen Kriege’. Demnach findet wohl auch kein Dritter Weltkrieg statt und es gibt anschließend auch keine ‘Postatomare Schreckenszeit’.

In weiterer Folge kommt es rund ein Jahrhundert später (2161) nicht zur Gründung der Vereinigten Föderation der Planeten.

Zefram Cochrane (2060er-Jahre)

Dr. Zefram Cochrane gilt auf der Erde als der Erfinder des Warp-Antriebs. Er entwickelt diesen in Montana (USA) in einem Raketensilo, einem Überbleibsel des vor zehn Jahre zu Ende gegangenen ‘Dritten Weltkrieges’. Im April 2063 führt er seinen Erstflug durch, was den Erstkontakt zwischen der Menschheit und den Vulkaniern herbeiführt.

In den folgenden Jahrzehnten löst die Menschheit alle ihre internen Konflikte und vereinigt sich auch auf der politischen Ebene in Form einer Weltregierung (‘United Earth’).

Die Zeit-Disruption: Im Jahr 2373 reist ein Schiff der Borg zurück ins Jahr 2063. Die Borg töten Cochrane und zerstören die Phoenix, das erste irdische Warp-Schiff. Dies hat zur Folge, dass der erste Warp-Flug der Menschheit am 5. April 2063 nicht stattfindet und die Vulkanier sich nicht zu einem Erstkontakt mit der Erde entschließen.

In weiterer Folge kommt es weder zu den positiven Entwicklungen auf der Erde noch zur Gründung der Föderation ein Jahrhundert später. Stattdessen wird die Menschheit von den Borg vollständig assimiliert.

Analyse

Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Die Gründung der Föderation wird auf das Wirken von Einzelpersonen beziehungsweise auf Einzelereignisse zurückgeführt, die teilweise bis zu 200 Jahre vor dem Gründungsdatum (2161) stattgefunden haben. Diesem Geschichtsverständnis liegt die Annahme zugrunde, dass der Verlauf der Geschichte Wegmarken hat, die derart entscheidend sind, dass kein anderes Ereignis oder keine andere Person andernorts oder zu einem anderen Zeitpunkt einen ähnlichen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen kann.

Diese Vorstellung von Geschichtlichkeit ist durchaus verbreitet, aber eben auch kritikwürdig. Selbstverständlich prägen Einzelpersonen und Einzelereignisse den Verlauf der Geschichte. Nichtsdestotrotz müssen auch komplexe historische Kontexte und Makrophänomene, also die historischen Entwicklungen von sozialen Systemen, in die Betrachtung einfließen. Diesen Sachverhalt möchte ich an einigen der oben genannten Beispiele verdeutlichen:

Edith Keeler und ihre Friedensbewegung

Die Geschichte von Edith Keeler ist unterkomplex, weil der Kriegseintritt der USA vor allem auch die postwendende Antwort auf ein nationales Trauma, den japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941, gewesen ist. Es ist aus meiner Sicht nicht wirklich schlüssig, dass der Einfluss einer persönlichen Ratgeberin des amtierenden US-Präsidenten oder auch der Einfluss einer pazifistischen Bewegung auf die Politik und auf die Gesamtgesellschaft derart groß hätte sein können, dass die USA diesen Überraschungsangriff zunächst einmal ohne explizite militärische Gegenreaktion hingenommen hätten.

Man bedenke an dieser Stelle: Pazifistische Bewegungen konnten weder den Vietnamkrieg (1960er-Jahre) verhindern noch die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses (1980er-Jahre). Und auch gegenwärtig sehen sich Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine, die ihre Kritik mit einer pazifistischen Grundeinstellung begründen, eher dem Vorwurf des “Lumpen-Pazifismus” ausgesetzt, als dass sie eine Breitenwirkung erzielen könnten.

Daraus folgt: “Star Trek” überschätz mit dieser Narration sowohl die Bedeutung einer Einzelperson als auch die Wirkungsmacht einer pazifistischen Bewegung.

Die Bell-Unruhen

Noch weniger überzeugend ist die in “Deep Space Nine” konstruierte Kontinuitätslinie von den ‘Bell-Unruhen’ (2024) bis zur Gründung der Föderation (2161). Hier liegen immerhin 137 Jahre Menschheitsgeschichte zwischen beiden Ereignissen, darunter auch die Zeit des ‘Dritten Weltkriegs’ (2026-2053) und die daran anschließende Epoche der sogenannten ‘Postatomaren Schreckenszeit’. Angesichts von mindestens 40 Jahren globaler Zerstörung und Genozid ist es nicht nachvollziehbar, warum eine bessere soziale Situation in den USA vor Kriegsausbruch (2024-2026) das Entstehen der Föderation so maßgeblich beeinflusst haben sollte.

Ergo: Die Bell-Unruhen mögen vielleicht nicht gänzlich irrelevant für den weiteren Verlauf der amerikanischen Geschichte sein. Aber objektiv betrachtet, sind die ‘Bell-Unruhen’ in den 2020er-Jahren nicht von globaler Bedeutung. Und auch ganz sicher keine zwingende Vorbedingung für das Entstehen einer interstellaren Allianz zwei Jahrhunderte später.

Eugenik-Bewegung und Tyrannis der Augments

Den “Fall Khan” habe ich bereits in meiner jüngsten Rezension ausführlich analysiert. Kurz zusammengefasst:

Wäre Khan als Kind gestorben, hätte es die ‘Eugenischen Kriege’ sehr wahrscheinlich trotzdem gegeben. Womöglich wären sie etwas weniger verheerend ausgefallen, mehr aber auch nicht. Denn hätte Khan das Erwachsenenalter nicht erreicht, dann hätte höchstwahrscheinlich ein anderer Augment seinen Führungsanspruch innerhalb der Gruppe angemeldet (z.B. Joachim/Joaquin).

Zudem muss die ‘Eugenische Bewegung’ im 20. und 21. Jahrhundert des “Star Trek”-Universums – wenigstens für einen gewissen Zeitraum – eine Art Massenbewegung gewesen sein, ähnlich wie der Faschismus bzw. der Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert der realen Welt. Ohne eine unterstützende Massenbasis dürfte es den Augments ansonsten kaum möglich gewesen sein, gleich in mehreren Ländern die Macht zu übernehmen und diese auch über Jahre zu konsolidieren.

Khan war auch – zumindest zu Beginn dieser neuen ‘Eugenischen Bewegung’ – gar nicht der Spiritus Rector dieser Bewegung, sondern vielmehr dessen Produkt und Instrument. Das lässt “Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow” jedenfalls vermuten. Womöglich führt hier eine Spur zu Adam Soong aus “Star Trek: Picard”, Staffel 2.

Zudem sei der Ausbruch des ‘Dritten Weltkriegs’ laut “Strange New Worlds” multikausal gewesen. Hier wird u.a. der ‘Zweite Amerikanische Bürgerkrieg’ als einer der Katalysatoren identifiziert.

Daraus folgt: Seras Computer hat etliche Variablen in seinen temporalen Berechnungen unberücksichtigt gelassen. Und SNW ignoriert Aussagen, welche die Serie an anderer Stelle selbst getätigt hat.

“Zeit ist wie eine Black Box. Sie ist viel zu kompliziert, um sie der Intuition zu überlassen. Also haben wir Computer konstruiert, die uns […] gewisse Veränderungen zeigen. […] Khan wird ein brutaler Despot, doch vielleicht braucht ja die Menschheit das dunkle Zeitalter, in das er sie stürzt, um mit der Zeit der Aufklärung anzufangen. Oder…es passiert einfach aus Versehen. Das spielt auch keine Rolle, weil es, wenn ich ihn töte, die Föderation niemals geben wird.“

Die romulanische Zeitagentin Sera in SNW 2×03 “Morgen und morgen und morgen”

Cochranes privates Warp-Projekt

Die Erzählung von Dr. Zefram Cochrane und dessen Warp-Projekt enthält einige unglaubwürdige Elemente. Cochrane baut sein Warpschiff scheinbar auf einer ehemaligen Atomraketenanlage der US Armed Forces im Rahmen eines weitestgehend privaten Projekts. “Star Trek: First Contact” macht jedenfalls keine gegenteiligen Andeutungen, etwa dass Cochrane von einem Mäzen gesponsert wird oder sogar im Auftrag einer Regierung arbeitet. Vielmehr lässt er durchblicken, dass er darauf hofft, den Antrieb im Erfolgsfall an einen Kaufinteressenten veräußern zu können, um auf diese Weise reich zu werden.

Es stellt sich die Frage, wie Cochrane – offenkundig ein eher mitteloser Mann – ein solches Mammutprojekt ohne großangelegte staatliche Unterstützung – personelle, finanzielle und logistische – überhaupt stemmen kann. Er hat zwar Mitarbeiter, aber besonders professionell sieht der Raketenkomplex in Montana nicht aus. Hinzu kommt, dass das ‘Unternehmen Warpantrieb’ in einer Epoche verwirklicht wird, die von enormer Ressourcenknappheit geprägt zu sein scheint. So sagt Cochranes Mitarbeiterin Lily Sloane, dass sie sechs Monate dafür gebraucht habe, um genügend Titan für ein 4-Meter-Cockpit “zusammenzuschnorren”.

Der Staat USA scheint im Jahr 2063 in Teilen nicht mehr existent oder zumindest dysfunktional zu sein. Aber dennoch müsste Cochrane in einem solchen Fall – so wie beispielsweise Elon Musk (SpaceX) – Multimilliardär oder wenigstens Multimillionär sein, um solch ein ambitioniertes Projekt auf nichtstaatlicher Ebene aufziehen zu können. Oder er müsste einen finanzkräftigen Sponsor im Rücken haben. Man hätte Cochrane daher besser als renommierten Forscher darstellen sollen, der für einen globalen Großkonzern oder einen Staat arbeitet. Das wäre realistischer gewesen.

Dies hätte dann aber zugleich bedeutet, dass sein vorzeitiger Tod das Projekt nicht notwendigerweise zum Erliegen gebracht hätte, weil an solchen Projekten immer zahlreiche Ingenieure beteiligt sind, die einen ähnlichen Wissensstand besitzen und ihre Forschung auch dokumentieren. Die Zerstörung der Phoenix war daher auch das primäre Ziel der Borg. Dies wurde jedoch durch das Eingreifen der Enterprise-E verhindert, die das angreifende Borg-Schiff zerstörte.

Wenn man die Bedeutung des ersten Warpfluges und das damit verbundene Timing (Erster Kontakt) für die Entwicklung der Menschheit und die Gründung der Föderation bedenkt, dann ist dieser Fall tatsächlich derjenige, bei dem man am ehesten von einer Unwiederholbarkeit ausgehen könnte. Das unterscheidet den ‘Fall Cochrane’ ein wenig von den anderen besprochenen Fällen. Allerdings wirkt es konstruiert, dass nur Cochrane das Warpschiff fliegen kann (Picard: “Wenn Cochrane tot ist, dann stirbt die Zukunft mit ihm.”)

Unterkomplexes Geschichtsverständnis

Die Analyse zeigt: Das in “Star Trek” gezeichnete Geschichtsbild ist in vielen Fällen unterkomplex. Es legt den Fokus fast ausschließlich auf die Bedeutung singulärer historischer Personen und Ereignisse, die sodann in einer deterministischen Kausalkette teilweise über Jahrhunderte hinweg weitergedacht werden. Historische Personen werden hierbei fast immer als ‘unersetzbar’ beschrieben, sodass die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit bestimmter geschichtlicher Ereignisse unterstellt wird.

Zugleich bleiben Ideen, Strukturen und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Bewegungen weitestgehend unberücksichtigt beziehungsweise deren Bedeutung wird durch das Wirken von Einzelpersonen in den Schatten gestellt. Beispielsweise wird in “Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow” die Wirkungsmacht einer eugenischen Massenbewegung innerhalb einer Gesellschaft negiert, weil man sich stattdessen an einer personifizierten Historizität abarbeitet, die der Vorstellung folgt, dass es vor allem (oder ausschließlich) die sogenannten “großen Männer der Geschichte” (hier: Khan Noonien-Singh) sind, die den Lauf der Geschichte determinieren.

Zeit-Agenten, die den Verlauf der Geschichte tatsächlich maßgeblich verändern wollen, müssten allerdings eine deutlich umfassendere Zeitlinienmanipulation betreiben, anstatt nur Einzelpersonen beziehungsweise Einzelereignisse aus der Geschichte zu tilgen.    

Fazit

Es spricht vieles dafür, dass “Strange New Worlds” den etablierten Kanon im weiteren Serienverlauf in Nuancen umschreiben wird. An der ein oder anderen Stelle hat die Serie dies bereits getan. Ein umfassender Retcon, so wie in der Reboot-Kinofilmreihe, ist indes nicht zu erwarten. Man möchte sich einerseits weiterhin im Prime-Universum bewegen, andererseits aber auch genug Freiraum für die eigenen Geschichten haben, um der berühmtberüchtigten ‘Prequel-Falle’ ein Schnippchen schlagen zu können.

Diese kleineren Kanon-Veränderungen, darunter beispielsweise die Umdatierung von einschneidenden historischen Ereignissen wie den ‘Eugenischen Kriegen’, können mit Eingriffen durch Zeit-Agenten im Rahmen temporaler Konflikte, wie dem in “Enterprise” erzählten ‘Temporalen Kalten Krieg’, erklärt werden. Auch Kanon-Puristen werden sich damit arrangieren müssen, wenn sie der Serie eine echte Chance geben wollen.

Die bisher ausgestrahlten 13 Episoden der Serie verfestigen derweil den Eindruck, dass sich auch “Strange New Worlds” – wie viele andere “Star Trek”-Serien zuvor – einem primär personifizierten Geschichtsbild verschrieben hat. Der Fokus dieser Geschichtsvorstellung liegt zuvorderst auf Personen und Einzelschicksalen, wobei eine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit geschichtlicher Ereignisse angenommen wird. An gesellschaftlichen und politischen Strukturen sowie Ideologien und den daraus resultierenden sozialen (Massen-)Bewegungen zeigt “Strange New Worlds” hingegen nur wenig Interesse. Die Folge ist eine Art Determinismus als Wesenskern der historischen Narration in der Serie.

Aber letztendlich ist es ohnehin nur Science-Fiction…

Diskutiert mit!

Was glaubt ihr, wie stark wird “Strange New Worlds” den Kanon umschreiben?

Und werden wir endlich erfahren, wer hinter dem ‘Future Guy’ aus “Enterprise” steckt?

Lasst uns einen Kommentar dar, gerne auch eure Meinung zum in “Star Trek” vertretenen Geschichtsbild: realistisch oder unrealistisch?

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Matthias Suzan
Matthias Suzan
Matthias' Leidenschaft für "Star Trek" wurde 1994 mit knapp zehn Jahren durch "The Next Generation" geweckt. TNG und DS9 sind bis heute seine Lieblingsserien. Es sind vor allem die politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Themen des Trek-Universums, die ihn faszinieren. Aber auch die vielen, tollen Raumschiffe haben es dem passionierten Modellbauer angetan. Matthias ist seit 2017 Teil der TZN-Redaktion.

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Ich finde es klasse das über den “Trick” Temporaler Kalter Krieg, Trek-Canon-Probleme umschifft werden können.. Man ist sich ja über 1992 TOS Euginsichen Konflikte bewusst, aber durch dass eingreifen Zahlreicher Zeitagenten und Feinde eben dieser, kommt halt immer wieder mal was durcheinander…

Bei Cochrane ging es meines Wissens nicht um den Tod der Person, sondern um die Verhinderung des ersten Warp-Fluges. Die Vulkanier sind aufgrund des Warp auf die Erde aufmerksam geworden, das Leben oder Sterben des Menschen Cochrane spielte da keine Rolle. Wäre Cochrane während oder nach dem Flug gestorben, wären die Vulkanier dennoch auf der Erde gelandet. So habe ich es jedenfalls verstanden. Ich habe die zweite Staffel SNW bisher noch nicht gesehen, aber wenn dort wirklich der temporale kalte Krieg fortgeführt wird, wäre es einerseits schön, da er in Enterprise ziemlich abrupt beendet wurde, andererseits könnte es ein ganz… Weiterlesen »

Kurz als Anmerkung: In den Büchern (ja wurde auch teilweise schon wieder geretconnt 😉 ) wird Cochrane von FLint dem Unsterblichen heimlich finanziert ;).

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