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Kurzrezension: Picard 2×09 – “Hide and Seek”

“Hide and Seek” schließt die ersten Handlungsstränge der zweiten Staffel mit viel Action und Retconning ab und bereitet uns geistig auf ein verwirrendes Finale vor.


Was meinen wir mit “spoilerfrei”?

Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen dazu, was “spoilerfrei” bedeutet. Damit ihr selbst entscheiden könnt, ob ihr die Rezension vorab lesen möchtet, machen wir hier transparent, was wir darunter verstehen:

  • Wir verraten keine wichtigen und unerwarteten Wendungen der Handlung bzw. Informationen über die fiktiven Welt und ihre Figuren.
  • Was im Vorfeld durch Vorschauclips und Trailer gezeigt wird, ist kein Spoiler.
  • Was im Cold Open (vor dem Vorspann) bzw. im ersten Akt (bei Episoden ohne Cold Open) passiert, ist kein Spoiler.
  • Handwerklichen Aspekte (Schauspiel, Drehbuch, Bühnenbild, Soundtrack, Spezialeffekte) sind keine Spoiler, sofern sie nichts Wichtiges über die Handlung verraten.

Die La Sirena und das Chateau Picard werden von den assimilierten Elitesoldaten der Spearhead Operations angegriffen. Picard und seine Crew versuchen mit Tallinns Hilfe zu verhindern, dass die Borg-Königin sich dem Schiff bemächtigen und mit der Assimilation der Galaxie beginnen kann.

Hide and Seek

“Hide and Seek” spielt im Wesentlichen auf zwei Ebenen, die beide namensgebende Versteckspiele sind: Auf dem Chateau und der La Sirena, wo unsere Held:innen keinen direkten Schlagabtausch mit der feindlichen Übermacht überstehen könnten. Und in Flashbacks von Picards Kindheit, die endlich die in “Monsters” angerissenen Geschehnisse auflösen.

Im Gegensatz zu den teilweise unfokussierten und mäandernden Episoden aus dem zweiten Akt der Staffel ist “Hide and Seek” straff und konzentriert. Regisseur Michael Weaver gelingt es, die beiden Ebenen souverän zu inszenieren. Es kommt keine Langeweile auf. Wirklich gelungen sind die flüssigen Übergänge zwischen den beiden Erzählebenen. Behutsam lässt er einzelne Elemente aus Picards Erinnerung in der Gegenwart manifestieren. Das ist genau die richtige Menge “Filmmagie”, die die Folge optisch interessant halten.

Ein witziger Schachzug ist, dass Tallinn, Seven und Raffi der Löwenanteil der Action zu Teil wird, während sie den VIP Picard schützen. Dass drei Frauen mittleren Alters diese Rolle übernehmen, ist in Hollywood leider ein ungewohnter Anblick.

Dank der Flashbacks gibt es auch ein Wiedersehen mit James Callis aka Maurice und Madeline Wise als Yvette Picard.

Kurzrezension: Picard 2x09 - "Hide and Seek" 1
Dr. Adam Soong (Brent Spiner) und Soldaten der “Spearhead Operations” in “Hide and Seek (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Was weniger erfreulich ist, sind Wiedersehen mit Evan Evagora und Brent Spiner. Letzterer spielt konsequent, was ihm das Drehbuch vorgibt und spart sich konsequent alle Zwischentöne oder Nuancen. Soong ist das pure Böse, ein willfähriger Helfer der Borgkönigin, der die Menschheit aus Geltungssucht zu einem dunklen Zeitalter verdammt.

Trauriger Tiefpunkt: Nachdem schon die letzte Folge Elnor einen Bärendienst erwiesen hat, wird auch Raffis Story mit ihm hier zu einem vorläufigen Ende gebracht. Wie, lasse ich bewusst im Dunkeln, aber die Drehbuchlücken, die das Publikum hierfür ohne weitere Fragen oder Erklärungen schlucken soll, sind wirklich fantastisch. Sollte es wirklich das letzte Mal sein, dass wir Evan Evagora sehen, wäre es ein fader Abschied.

Monster-Retcon

Zentral für das “Funktionieren” dieser vorletzten Folge sind zwei nicht unerhebliche Retcons. Der eine betrifft Picards Familiengeschichte. Damit “Hide and Seek” (und ein wesentlicher Twist der übergreifenden Handlung) landen kann, müssen die Autoren eine Begebenheit aus “The Next Generation” in ein neues Licht rücken.

Ich bin gespalten, ob ich bereit bin, für den dramatischen Mehrwert und durchaus emotionalen Höhepunkt von Picards Entwicklung in dieser Staffel ein Auge zuzudrücken und dieses Täuschungsmanöver durchzuwinken. Tatsächlich schafft “Picard” mit diesem Dreh einen einigermaßen angemessenen Abschluss für die Aufarbeitung von Jean-Lucs Hintergrundgeschichte.

Kurzrezension: Picard 2x09 - "Hide and Seek" 2
Dylan Von Halle als junger Jean-Luc Picard in “Hide and Seek” (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Gleichwohl hat das Manöver ein starkes Geschmäckle. Die Auflösung, die uns nun präsentiert wird, hatte ich natürlich als dramaturgisch schlüssig auf dem Zettel. Ich hatte sie aber – wie viele andere Fans auch – als unmöglich verworfen. Dass “Hide and Seek” von Picards Handlungsstrang nur deswegen ein emotionaler Twist ist, gerade weil viele Zuschauer eben diese Möglichkeit im Vorhinein ausschlossen, kann man auf zwei Arten lesen:

  1. als brillanten Schachzug von Matt Okumura und Chris Derrick, die genau wie bei der persönlichen Biografie von Patrick Stewart das Vorwissen des Publikums gegen es verwendet haben, oder
  2. als hanebüchenen Ersatz für einen wirklich originellen Einfall, der sich nahtlos in den bekannten Kanon einfügt.

Ich bin ehrlich: Mir hätte es besser gefallen, nicht eine Szene aus TNG rekontextualisieren zu müssen, um diesen Handlungsbogen auflösen zu können. “Hide and Seek” verletzt zwar nicht den bekannten Kanon, ist aber für meinen Geschmack weniger elegant als “Lethe” (DIS 1×06).

Verzwergung der Borg

Der zweite Retcon betrifft die Auflösung der A-Handlung und den Kampf um die La Sirena. Es ist bereits seit der gesamten Staffel Thema, aber in “Hide and Seek” erreicht die Verzwergung der Borg ihren absoluten Höhepunkt seit ihrer Einführung in “Q Who” als ultimative Bedrohung für Sternenflottencrews vom Alpha- bis in den Delta-Quadranten.

Weder die Unterjochung der orientierungslosen Borg im TNG-Zweiteiler “Descent” durch Lore, oder die Einführung der Borg-Königin als Comic-Bösewicht in “First Contact”, noch die Verhandlungsbereitschaft des Kollektivs in “Skorpion” oder die inflationär siegreich überstandenen Scharmützel in “Voyager” haben den Borg ihren Schrecken genommen wie “Hide and Seek”.

Die assimilierten Söldner aus der vergangenen Folge werden zwar von Seven klar als Borg-Drohnen identifiziert, zeigen aber keine Charakteristiken, die wir von solchen erwarten würden. Ich verzichte aus Spoilerschutzgründen auf Beispiele und Details. Es ist aber für mich völlig unklar, worin der Mehrwert der vermeintlichen Assimilation am Ende der letzten Folge bestehen soll, wenn sich die Söldnertruppe wie generische Bad Guys bzw. Hollywood-typisches Kanonenfutter für Action-Helden verhält.

Das könnte ich allerdings noch schulterzuckend wegstecken. Wo mir aber die Spucke wegbleibt, ist die Auflösung des Kampfes mit den Borg. Was hier reduktionistisch in wenigen Minuten völlig willkürlich dekonstruiert wird, hat mir die Socken ausgezogen. Ich möchte ausdrücklich zu Protokoll geben, dass ich mich sehr darüber freue, dass die Episode nicht (nur) als Action-Schießbude konzipiert wurde, sondern eine Auflösung angedacht war, die langlaufende Charakterentwicklungen der ganzen Staffel berücksichtigen wollte.

In meiner kontrovers aufgenommenen Retro-Rezension zu “First Contact” hatte ich das Drehbuch dafür kritisiert, dass Picard und Co. den Kampf gegen die Borg selbst dann mit zügelloser Gewalt fortsetzten, als sie gegen Ende des Films die Oberhand erlangen. Das “Happy Ending” des Films ist, dass Picard der wehrlosen Königin das Genick bricht. In der Logik von “First Contact” ist jede Form von Koexistenz mit den Borg undenkbar. Ihre Andersartigkeit schließt jede Konfliktlösung aus, die nicht in ihrer Auslöschung mündet. Nur ein toter Borg ist ein guter Borg. Ich habe das als “faschistischen Grundhaltung” zusammengefasst, was vielen Leser:innen nicht gefallen hat. “Hide and Seek” versucht sich an einer Alternative.

Wenn “Hide and Seek” die Lösung sein soll, dann will ich das Problem zurück. Wer dieses Ende kauft, glaubt auch, dass man durch den großzügigen Konsum von Krombacher-Kästen den Regenwald und das Weltklima retten kann. Ich möchte wie gesagt die Absicht nicht schmähen, einen Ausweg aus der Logik gegenseitiger Auslöschung zu finden, aber die Ausführung erscheint mir reichlich vereinfachend, naiv und unplausibel. Abgesehen davon, dass die aufgezeigte Lösung viele moralische Fragen aufwirft, die aber unadressiert bleiben.

Kurzrezension: Picard 2x09 - "Hide and Seek" 3
Agnes Jurati (Alison Pill) und die tote Borg-Königin (Annie Wersching) in “Hide and Seek” (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Auch wenn man die logischen und inhaltlichen Probleme dieses Handlungsbogens ignoriert, demystifiziert “Hide and Seek” die Borg auf eine Art und Weise, dass sie als Antagonisten effektiv für künftige “Treks” verbrannt sind. Insbesondere die Borg-Königin wird derart verniedlicht und mit Küchenpsychologie dekonstruiert, dass sich der letzte Rest Mythos und Bedrohlichkeit in Luft auflöst. Die Macher von “Picard” werden vermeintlich einwenden, “it’s a feature, not a bug”. Ich empfinde es aber als unrühmliches Ende einer der besten und bedrohlichsten Kräfte, die je ein fantastisches Medium geziert haben.

Was soll das noch werden?

“Hide and Seek” fühlt sich fast wie ein Staffelfinale an. Und so muss das Drehbuch das Publikum am Ende noch an ein paar der zahlreichen offenen Handlungsfäden erinnern, zu denen unsere Protagonisten aber noch wirklich herzlich wenig wissen. Eine Episode vor Staffelschluss kennen wir z.B. immer noch nicht Qs Motivation, Picard mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Auch Tallinns und Kores Storyline sind völlig offen, ganz zu schweigen von der Frage, ob sich die tapfere Crew überhaupt die Abweichung in der Zeitlinie verhindert hat, oder sich noch auf dem besten Wege befindet, diese zu bewirken. Es droht in der letzten Folge ein hastige erzähltes und/oder im Cliffhanger mündendes Finale.

Beobachtungen

  • Der junge Picard spielt in einem Flashback mit Modellraumschiffen, wie in “Booby Trap” im Gespräch mit Chief O’Brien erwähnt. Eines davon ist Doug Drexlers NX-Refit, eine Variante von Archers Enterprise, die eine Sekundärhülle erhalten hatte. Das Schiff gilt schon lange als ein Favorit vieler Fans und wird durch die Folge kanonisiert.
  • Picard erzählt Tallinn davon, wie er sich seine Mutter immer wieder vorgestellt habe. Das Auftauchen von Yvette Picard in “Where No Man Has Gone Before” entspricht Picards Schilderung praktisch Wort für Wort.
  • Seven hat eine “kreative” und grausame Idee, um eine Gruppe von Spearhead-Söldner unschädlich zu machen. Es stellt sich aber die Frage, wie deren Spuren wieder beseitigt werden können, damit sie nicht eines Tages gefunden werden und die Zeitlinie kontaminieren.
  • Am Ende der Episode werden wir mit einem Rätsel zurückgelassen. X müsse sterben und Y müsse leben. Das scheint zunächst widersprüchlich und könnte ein Hinweis darauf sein, dass “Picard” zum Finale noch eine dritte Zeitline eröffnen wird. Oder es ist eine Anspielung auf Picards Familienstammbaum, der das zweifellos auch hergibt.

Mit Rücksicht auf die Leser:innen, die die Episoden noch nicht gesehen haben, bitten wir in den Kommentaren zu diesem Beitrag auf Spoiler zu verzichten. Danke!

Am 09.05.2022 zeichnen wir gemeinsam mit dem Discovery Panel einen Podcast zum Staffelrückblick auf “Picard” auf. Hinterlasst gerne in den Kommentaren Fragen, Meinungen und Themen, zu denen ihr gerne von Sebastian, Andreas, Tom, Matthias und Christopher etwas hören möchtet.

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Kurzrezension: Picard 2×08 – “Mercy”

© Paramount + / Amazon Prime Video

In der drittletzten Episode “Mercy” erlebt die zweite Staffel “Picard” einen unfokussierten Durchhänger.


Was meinen wir mit “spoilerfrei”?

Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen dazu, was “spoilerfrei” bedeutet. Damit ihr selbst entscheiden könnt, ob ihr die Rezension vorab lesen möchtet, machen wir hier transparent, was wir darunter verstehen:

  • Wir verraten keine wichtigen und unerwarteten Wendungen der Handlung bzw. Informationen über die fiktiven Welt und ihre Figuren.
  • Was im Vorfeld durch Vorschauclips und Trailer gezeigt wird, ist kein Spoiler.
  • Was im Cold Open (vor dem Vorspann) bzw. im ersten Akt (bei Episoden ohne Cold Open) passiert, ist kein Spoiler.
  • Handwerklichen Aspekte (Schauspiel, Drehbuch, Bühnenbild, Soundtrack, Spezialeffekte) sind keine Spoiler, sofern sie nichts Wichtiges über die Handlung verraten.

“Mercy” spielt auf vielen Hochzeiten: Picard und Guinan sind im Gewahrsam von Wells, der die beiden für außerirdische Agenten hält, die die Europa-Mission sabotieren wollen. Seven und Raffi verfolgen derweil Jurati in der Hoffnung, die neue Borg-Königin zu stoppen. Rios versucht auf der La Sirena, diese von den Modifikationen der Borg-Königin zu befreien und seine Beziehung zu Teresa zu vertiefen. Adam muss sich Kore Soongs Entdeckungen stellen und sieht sich mit einer schwerwiegenden Entscheidung konfrontiert.

GNDN

Auf den Sets der “Next Generation” mussten viele Türen, Panele, Kisten und Leitungen mit Stickern beschriftet werden, um die Illusion eines durchdachten und funktionierenden Raumschiffes zu schaffen. Ein Insiderwitz in der Produktionsabteilung war die Beschriftung “GNDN” als Abkürzung für “Goes Nowhere, Does Nothing” – “Führt nirgendwo hin, hat keine Funktion”.

“Mercy” ist, wie leider der Großteil der zweiten Staffel, mit “GNDN” ziemlich gut beschrieben. Mit Agent Wells führt “Picard” die nächste Figur ein, die ohne erkennbaren Grund den Plot verkompliziert. Wie bereits Rios’ Verhaftung saugt sie unnütz Momentum aus der ohnehin bereits dahinkriechenden Handlung heraus. Nach Teresa, Renée, Tallinn, Guinan, Adam und Kore Soong hat der Writer’s Room offenbar immer noch nicht ausreichend Nebenfiguren aus dem 21. Jahrhundert aufgefahren.

Außer der aus “TNG” bekannten Guinan hat davon bisher niemand ein differenziertes oder gar interessantes Innenleben entwickeln können, sondern ist im zweidimensionalen Klischee verhaftet geblieben. Wir haben inzwischen einen Pantheon von kleinen Zahnrad-Charakteren, die allesamt nur für den Zweck zu existieren scheinen, die dünne Handlung der Staffel um eine weitere Folge oder zwei zu strecken, und dabei selbst letztlich belanglos blieben. Nun nimmt sich “Mercy” die Zeit – oder besser gesagt: stiehlt dem Publikum die Zeit – auf den letzten Metern einen Agent-Mulder-Verschnitt einzuführen.

Kurzrezension: Picard 2x08 - "Mercy" 4
Jay Karnes als Agent Wells in “Mercy” (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Die wohlwollendste Erklärung für Wells Erscheinen so spät in der Staffel mag lauten, dass er auf eine bestimmte Weise Picard spiegelt. Guinan und Picard versuchen daraus eine tiefsinnige Moral über das Wesen der Menschen zu spinnen, wer aber kurz darüber nachdenkt und es in den Kontext des bekannten “Star Trek”-Kosmos setzt, erkennt nur hohle Phrasen müder Küchenpsychologie.

Die Analogie wird uns, dem Publikum, mit dem bekannten Fingerspitzengefühl (Vorschlaghammer) so nahegebracht, dass es schon wieder karikierende Züge annimmt. Außerdem scheint der Vergleich sowohl unnötig als auch unglaubwürdig. Hätte die letzte Episode nicht in einem Akt der Willkür die Auflösung von Picards Kindheitstrauma in letzter Minute gestoppt, wäre sie vermutlich gänzlich überflüssig. Schließlich bringt die Figur Wells durch ihre Anlage so viele logische Probleme mit sich, dass man sich schon alleine deswegen wünscht, “Mercy” hätte sich diesen Nebenschauplatz gespart.

Am Ende dieser A-Handlung stellt sich mir ernsthaft die Frage, was Cindy Appel und Kirsten Beyer glauben, mit “Mercy” erzählerisch geleistet zu haben. Und wenn Agent Wells in den letzten beiden Episoden noch wichtig werden sollte, wäre es nicht sinnvoll gewesen, ihn bereits am Anfang der Staffel einzuführen?

Mercy: Gnade nach Buße

Und so laviert sich “Mercy” auch durch die anderen Handlungsstränge. Die Verfolgungsjagd von Raffi und Seven schrammt mal wieder haarscharf daran vorbei, die Beziehung und die inneren Konflikte dieser Figuren zu vertiefen. Der Gipfel der handwerklichen Stümperei ist ein Flashback von Raffi, das einerseits als emotional bewegendes Geständnis taugen soll, aber andererseits danach keine Rolle mehr spielt. Das ist wohl als Payoff für ein paar Andeutungen aus den letzten Episoden gedacht. In “Mercy” wirkt es aber eher gedankenlos drangeklatscht als eine echte befriedigende Auflösung für Raffis Handlungsbogen.

Stattdessen bekommen wir eine haarsträubend unwahrscheinliche Action-Szene präsentiert, in der die Beteiligten offenbar zu dumm sind, einen auf dem Boden liegenden Phaser in unter 30 Sekunden wieder aufzusammeln. Derweil wird der Assimilationsprozess der Borg weiter freudig umgewurschtelt, wie es das Drehbuch gerade braucht: GNDN.

Kurzrezension: Picard 2x08 - "Mercy" 5
Rios (Santiago Cabrera) und Teresa (Sol Rodriguez) in “Mercy” (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Auf der La Sirena geht es ähnlich unfokussiert zu. Im Wesentlichen ist Rios dafür abgestellt, das Schiff vom Einfluss der Borg-Königin zu befreien. In der Drehbuchlogik gibt es ihm “frei”, um Platz für ein paar durchaus sympathische Szenen mit Teresa und Ricardo zu machen. Es würde mich nach “Monsters” nicht wundern, wenn Rios am Ende der Staffel auf die Rückkehr ins 25. Jahrhundert verzichten würde.

Aber auch die gute Dr. Ramirez und ihr Schwarm aus der Zukunft sollen trotz der ungestörten Zweisamkeit keine Chance erhalten, ihre Beziehung wirklich zu vertiefen. Es wird geflirtet, was das Zeug hält. Und als wolle das Drehbuch uns einen Stinkefinger zeigen, würgt es eine wirklich gelungene Szene genau in dem Moment ab, als Rios tatsächlich einmal wachsen könnte. Wie gesagt: GNDN.

Der Rest

“Mercy” macht auch noch Raum für zwei andere Nebenschauplätze. Der gelungenere davon ist ein weiterer Auftritt von John de Lancie als Q. In einem kurzen Kammerspiel erfahren wir eine Winzigkeit mehr darüber, was ihn umtreibt. Die Zeilen sind pointiert und de Lancie weiß sie wirkungsvoll ins Ziel zu bringen. Dumm nur, dass wir danach immer noch ahnungslos sind, warum Q sich wieder ins Picards Leben einmischt und was er sich davon erhofft. Das ist kurz vor Staffelende eine ziemlich zynische Art und Weise, den zweiten Akt der Story künstlich in die Länge zu ziehen.

Kurzrezension: Picard 2x08 - "Mercy" 6
John de Lancie als Q in “Mercy” (Bild: © Paramount + / Amazon Prime Video)

Bleiben zuletzt noch die Soongs. Im Gegensatz zu anderen Rezensierenden empfinde ich den kompletten Handlungsstrang bereits seit “Fly Me to the Moon” zum Fremdschämen. Adam Soong ist das zweidimensionale Abziehbild eines verrückten, geltungssüchtigen Wissenschaftlers, wie es sie nur in Hollywood gibt. Auch Kores Charakterisierung ist schwer auszuhalten: Die Enthüllungen aus “Two of One” haben offenbar nicht gereicht, ihr klarzumachen, dass sie das Ergebnis von genetischen Experimenten in einer ganzen Reihe von Fehlschlägen ist.

Es mag ja sein, dass Menschen in Krisensituationen in Selbsttäuschung verfallen, und widersprüchliche Informationen ausblenden/ignorieren, die ihr Selbstverständnis in Frage stellen. Aber zu diesem naiven Selbstbetrug passt ihr abgeklärtes Verhalten in der restlichen Folge ganz und gar nicht.

To be continued…

Nach “Mercy” sind wird keinen Deut klüger, was die Mission unserer Protagonisten oder ihre Charakterbögen für diese Staffel anbelangt. Mit nur noch zwei Folgen vor der Brust hat “Picard” mehr als ein halbes Dutzend bedeutende offene Handlungsstränge abzubinden und reißt mit dem Ende der Episode weitere auf.

Die offenen Enden haben Methode – und bei der handelt es sich nicht um eine besonders ausgeklügelte Dramaturgie. Sollte sich das Chaos der Handlungsstränge tatsächlich in den nächsten beiden Folgen zu einem befriedigenden Ende abschließen lassen, dann reichte der komplette Plot samt Charakterentwicklung nicht einmal für eine halbe Staffel. Und so wird das Publikum mit kleinsten Häppchen von Woche für Woche abgespeist und letztlich für dumm verkauft.

Raffi und Seven in "Mercy"
Raffi und Seven in “Mercy” – © Paramount + / Amazon Prime Video

So wissen weder Publikum noch Protagonisten, was eigentlich Q mit dem ganzen Versuchsaufbau beabsichtigt, geschweige denn, mit welcher Motivation und Zielsetzung der Plot eigentlich in die letzten beiden Episoden aufgelöst werden könnte. Dabei sollte es einst um das innere Leben des Jean-Luc Picard und dessen Lebensentscheidungen gehen. Stattdessen wird die nächste belanglose Ablenkung von diesem vermeintlichen Kern der Geschichte mit dem Cliffhanger der Episode schon vorbereitet.

Beobachtungen

  • Smartphones verwenden Akkus meist auf Lithium-Ionen-Basis. Autobatterien (von Verbrennungsfahrzeugen) basieren dagegen auf Blei.
  • Wieder viel Product Placement für Microsoft, wieder kein Hinweis auf Werbeunterstützung in den Credits. Besonders unglücklich ist der prominente Einsatz einer Hololens, eines Produktes, dessen Weiterentwicklung vermeintlich auf Eis liegt.
  • Zum X-ten Mal: Ich halte nichts vom Assimilations-Retcon und die Assimilationseffekte sind wie die Maske der Borg-Königin ein riesiger Rückschritt von der “First Contact”-Ästhetik. Es ist schon eine traurige Leistung mit dem Vorsprung von 25 Jahre Produktionstechnik wahrhaft furchteinflößenden Körperhorror zu einem Schulterzucker zu degradieren. Da hilft es auch nicht, dass Jeff Russo inzwischen jede zweite Szene mit dem Borg-Thema aus “First Contact” unterlegt.
  • Wo wir beim Soundtrack sind: Es gibt ja noch ein paar andere ikonische Themen für die Borg sowohl aus “The Next Generation” als auch “Voyager”. Schade, das die keine Chance bekommen.
  • Wie lange darf man sich als Barbetreiber in LA Zeit lassen, die Scherben einer zerborstenen Fensterscheibe wieder vom Gehweg zu fegen?
  • “Mercy” legt uns nahe, dass die Technologie der Erde unmittelbar vor dem Dritten Weltkrieg für die Borg-Königin nicht ausreicht/geeignet ist, Populationen im großen Maßstab zu assimilieren. Wenn das wahr ist, warum springt die Borg-Sphäre dann in “First Contact” zurück nach 2063? Wie soll es nach den Verwüstungen eines Nuklearkrieges besser um Technik, Infrastruktur und Rohstoffe bestellt sein?
  • Kore hat einen Dodekaeder als weiße Blumenvase in ihrem Zimmer. Dasselbe Modell tauchte letzte Woche in der Paramount+-Schwesterserie “Halo” auf.

Mit Rücksicht auf die Leser:innen, die die Episoden noch nicht gesehen haben, bitten wir in den Kommentaren zu diesem Beitrag auf Spoiler zu verzichten. Danke!

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